Mahlzeit_Einleser_Vorwort_Kap50 - page 12

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Meine Eltern hatten sich Anfang des Krieges kennen gelernt,
noch vor den „schlechten Zeiten“.
(2)
Mein Vater war „im
Feld“, wie es auf den damaligen Heiratsdokumenten ver-
harmlosend hieß, und meine Mutter musste noch volljährig
gemacht werden, weil sie noch keine 21 war.
Meine Großeltern hatten Bedenken. Zwar mochten sie den
Karl, weil er fleißig, sauber, musikalisch, humorvoll und
katholisch war. Er rauchte und trank nicht und spielte
keinen Skat. Aber meine Oma gab zu bedenken, dass meine
Mutter ihn auch „nehmen“ müsse, wenn er aus dem Krieg
mit einem „abene Bään“ zurückkommen würde.
(3)
Das war
zum Glück nicht der Fall. Aber er wog 1945 genau die Hälfte
von dem, was ich derzeit auf die Waage bringe.
Bis April 1942 waren die Zuteilungen noch erträglich. Doch
dann kam es zu drastischen Einschnitten:
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Die Kürzungen
der Brotrationen haben bei Normalverbrauchern nieder-
schmetternd gewirkt. Der Sicherheitsdienst der SS war
besorgt.
(5)
„Schlechte Ernährung, mangelnde Hygiene und
kriegsbedingter Stress lassen die Krankenrate steigen. Neben
Magen- und Nierenleiden grassieren 1944 vor allem
Infektionskrankheiten. Mehr als eine Viertelmillion Fälle
von Scharlach und Diphtherie werden registriert. Dazu
kommen mehr als 15000 Erkrankungen an Typhus und
Paratyphus.
Ungleich mehr Menschen sterben in den
Konzentrationslagern, bei Bombenangriffen, an der Front.“
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In den letzten beiden Kriegsmonaten sollten sich die
Zuteilungen noch weiter verschlechtern.
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Nach Ende des 2.
Weltkriegs hatten die alliierten Besatzungsmächte in ihren
Sektoren neue Lebensmittelkarten ausgegeben. Diese waren
in Verbrauchergruppen von I bis V eingestuft, je nach Art
und Schwere der ausgeführten Arbeit. Aber auch das reichte
hinten und vorne nicht. Man ging in die Pfalz hamstern,
tauschte Kohlen gegen Kartoffeln, und jeder Gedanke über
die politische Zukunft wurde überlagert durch das Ziel „satt
genn“.
Mein Vater gab es offen zu: „Wenn jemand gesagt hätte, ihr
kommt jetzt zu China und bekommt dafür genug zu essen,
dann hätte ich sofort zugestimmt.“ Als ein entfernter
Verwandter aus dem damals noch ländlichen,
sprich
„gesättigten“ Sotzweiler
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innerhalb der „schlechten Zeiten“
starb, soll mein Vater bei dem „Leische-Imbs“
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mehr als
zehn Stücke Kuchen gegessen haben. Der Trick meines
Vaters: Er ging von Tisch zu Tisch und erzählte Geschichten,
die im Laufe der Trauerfeier immer lustiger wurden. An
jedem Tisch aß er ein Stück Kuchen. Zum Glück hatte er
weder seine Gitarre noch sein Akkordeon dabei.
Die Saarländer waren bei der französischen Besatzungsmacht
privilegiert. Diese gründete zwei Jahre nach Kriegsende die
Universität des Saarlandes
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, und sie schickte etwas Essbares,
wofür man keine Lebensmittelkarten brauchte: Datteln aus
ihren Kolonien in Nordafrika. Die ausgespuckten Kerne lagen
überall auf dem „Trottwa“
(11)
. Wer diese Zeiten erlebt hat, der
weiß, dass sie die Verdauung fördern können.
Letzte Woche rief ich meine Lieblingstante Hilde an
(12)
. Ich
fragte sie, welche kulinarischen Erinnerungen sie an meinen
1961 verstorbenen Uropa hätte. Sofort sagte sie: „Datteln“.
Satt genn
(1)
in schlechten Zeiten
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